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14. Mai 2012 1 14 /05 /Mai /2012 00:18

Die WHO schätzt, dass 75-85% der Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen in Entwicklungsländern keinen Zugang zu öffentlichen Versorgungsstrukturen haben.

Wie allerdings sinnvolle Hilfe aussehen kann, ist Gegenstand von heftigen Debatten. Psychisches Leid ist nicht nur von sozialen und politischen Faktoren beeinflusst, sondern als Krankheitsbild von den jeweiligen kulturellen Deutungsmustern und Vorstellungen abhängig.

Hier hat die US amerikanische Psychiatric Association mit dem diagnostischen Manual (DSM)– auch manchmal die Bibel der Psychiatrie genannt - die Deutungshoheit. Biomedizinische und medikalisierte Krankheitsbilder und Hilfsangebote widersprechen jedoch nicht nur häufig den Vorstellungen und Erwartungen der Betroffenen. Sie individualisieren das Leiden durch einen engen Symptomkatalog und definieren es in Pathologien, die manchmal mehr den Marktinteressen von Psychopharmaka und anderer Therapieprodukte zu entsprechen scheinen, als der Sorge um angemessene Hilfe. Manche Zahlen sprechen Bände: In Pakistan und Indien hat der Umsatz von Antidepressiva in den letzten Jahren massiv zugenommen, die meisten davon werden in privaten Apotheken und Arztpraxen verkauft, die sich besonders an die Armen und Marginalisierten richten.

Auch Gewaltopfer in Krisenregionen und Überlebende von Naturkatastrophen wecken immer häufiger das Interesse von Experten aus dem Ausland. Immer wieder werden sie Versuchsobjekt von neuen Therapiemethoden und neurobiologischen Studien. Die Frage, welche Hilfe sich die Betroffenen wünschen würden, rückt in den Hintergrund. Das Thema Trauma scheint, kombiniert mit der Idee schneller traumatherapeutischer Hilfe, geradezu eine Entlastungsstrategie für die mitleidenden Beobachter_innen in gesicherten Lebensverhältnissen zu sein.

Nach dem Tsunami 2005 erlebten die betroffenen Länder was der Autor Ethan Watters als die größte, internationale psychologische Intervention aller Zeiten bezeichnete. Schon zwei Wochen nach dem Unglück beschrieb ein WHO Beobachter irritiert, dass Hunderte von Therapeuten vor Ort seien, die nichts taten und nur im Weg waren, weil sie die Sprache nicht sprachen und nicht wussten, was sie tun sollten. Trotzdem schien es, als ob jeder, der irgendetwas mit Trauma zu tun hat, vor Ort sein wollte und überall wurden Zahlen publiziert, dass mindestens 15% - manche sprachen gar von 90% - der Überlebenden posttraumatische Störungen entwickeln würden. Darunter auch die Pharmafirma Pfizer, die einen Monat später ein Symposium über psychosoziale Hilfe organisierte, auf dem sie das neue Antidepressiva Zoloft anpries, das schon nach wenigen Wochen Wut und „emotionalen Aufruhr“ beseitigen würde. Mit der Volksarmee von Traumatherapeuten kamen auch die Forscher, wie z.B. die Neuropsychologen der Konstanzer Universität, die kurz nach dem Unglück eine Studie über posttraumatische Störungen (PTSD) bei Kindern präsentierten, obwohl selbst das DSM Manual erst von PTSD spricht, wenn Symptome länger als vier Wochen anhalten. All diese Studien und Interventionen waren vollkommen abgetrennt von lokalen Narrativen über die Bedeutung und Auswirkungen des Tsunami. Der Medizinanthropologe Arthur Kleinman nennt das Dehumanisierung. "Die meisten Katastrophen dieser Welt passieren nicht in der westlichen Welt. Und dennoch mischen wir uns ein. Wir nehmen ihnen ihr kulturelles Narrativ weg und zwingen ihnen unseres auf. Das ist ein drastisches Beispiel dafür wie Menschen entmenschlicht werden."

Vielleicht ist es die eigene postmoderne Verunsicherung des Westens durch die Auflösung vormals bindender Sozialbeziehungen und Überzeugungen, deren Projektionen die psychosoziale Hilfswelle seit den 1990er Jahren zur Folge hat, wie die Politologin Vanessa Pupavac vermutet. Ganz im ergebnisorientierten Sinne neoliberalen Denkens wird dabei nach der Kraft sozialer Beziehungen und ihren unberechenbaren, manchmal auch befreienden Wirkungen nicht mehr gefragt.

Quelle: http://www.medico.de/themen/psychosoziales/dokumente/gerechtigkeit-ist-glueck/4208/

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